Ein Momentum für Commoning

Der »Right Livelihood Award« für Cecosesola

Als Elinor Ostrom 2009 den Alfred-Nobel-Preis der Wirtschaftswissenschaften zuerkannt bekam, feierten wir Commoners dieses Momentum. Endlich erfuhren die langjährigen wissenschaftlichen Anstrengungen, Commons zu rehabilitieren, ihre gebührende Anerkennung. Ostrom und Kolleg*innen hatten auf Grundlage von langjährigen empirischen Untersuchungen aufgezeigt, unter welchen Bedingungen Gemeinschaften überall in der Welt »Ressourcen« gemeinschaftlich nutzen und pflegen. Eines dieser lebendigen und gelingenden Commons ist der Kooperativenverbund Cecosesola in Venezuela. 200.000 Mitglieder schaffen auf Grundlage von Vertrauen und Solidarität Fürsorge für alle. Und das seit 1967.i

Welch Freude, dass die »Cooperativistas« dieses Jahr den »Right Livelihood Award« erhalten haben. Diese Auszeichnung nennt sich in der Umgangssprache auch »Alternativer Nobelpreis« (eigentlich eine wenig verdiente Aufwertung für den Nobelpreis) und geht an Praktiker*innen, die eine bessere Welt gestalten. Und das tun die Cooperativistas jeden Tag in ihren 50 vernetzten Basisorganisationen. Diese umfassen Geburtshilfe, die Versorgung von 75.000 Familien mit ökologischem Gemüse und verarbeiteten Nahrungsmitteln, ein Gesundheitszentrum, ein Beerdigungsinstitut und vieles mehr. Eben alles, was so von der Wiege bis zum Grab für die gegenseitige Versorgung wichtig ist. Sie tun dies, ohne eine bestimmte gesellschaftliche Utopie verwirklichen zu wollen. Gustavo Salas begründet, »dieses ›So soll die Welt sein‹ endet oft damit, dass das, was ›sein soll‹, den Menschen aufgezwungen wird. Wir gehen von uns und unserer Kultur aus und sind uns sehr bewusst, dass kulturelle Transformation Zeit braucht. […] Deshalb analysieren wir oft, wie unsere Kultur unsere Beziehungen beeinflusst und was daraus Konstruktives werden könnte.«ii Seit über 50 Jahren schaffen die Cooperativistas unter schwierigen, durch Gewalt, Wirtschaftskrise, Sanktionen und galoppierende Inflation geprägten Bedingungen einen Raum für Gemeinsamkeit, indem sie eine widerstandsfähige Kultur von gegenseitigem Respekt und fairem Miteinander praktizieren, die tief in der lokalen Ökonomie verwurzelt ist. Im Prozess aus der jeweiligen Situation und den bestehenden Beziehungen heraus entwickeln sie ihre alltägliche Praxis immer wieder weiter – mit ausdrücklich wenigen Regeln.

Silke Helfrich, die Cecosesola für den Right Livelihood Award vorgeschlagen hat, hat sich immer wieder die Frage gestellt, wie dieser große lebendige Organismus Cecosesola gelingt. Wie bleiben Strukturen und Regeln intakt, angemessen und wandlungsfähig? Welche Infrastrukturen werden genutzt und aufgebaut? Wie finden Cooperativistas ihre jeweilige Tätigkeit und auf welcher Grundlage werden die unterschiedlichen Tätigkeiten anerkannt? Wie werden Konflikte angegangen? Wie entsteht tatsächliche Transparenz jenseits von Rechenschaftspflicht? Wie treffen 200.000 Personen gemeinsame Entscheidungen? Diese und viele andere Fragen stellte sie Mitgliedern von Cecosesola. Wer sich die Musterkarten des Commoningiii genauer anschaut, wird Parallelen zwischen diesen Fragen und jenen auf der Kartenrückseite finden. Das ist kein Zufall. Es liegt nicht daran, dass die Menschen hinter Cecosesola theoriegeleitet vorgegangen wären, womöglich die Musterkarten für ihre Entwicklung genutzt hätten. Es ist genau anders herum. Wie Jorge Rath in einem Interview sagt, »Cecosesola ist kein Modell und möchte auch keines sein – aber Commons-Theorie kann sich nur aus einer gemeinschaftlichen Praxis, aus konkreten Prozessen speisen. Cecosesola ist unser Commons.«iv

Die gelungenen Praktiken von Cecosesola sind neben weiteren gelungenen Lösungen anderer Praktiker*innen weltweit in die Muster des Commoning eingeflossen. Wenn wir heute die Karten zur Hand nehmen, ist immer auch ein wenig vom über 50-jährigen, immensen Erfahrungsschatz der Cooperativistas dabei. Welch Geschenk an uns alle. Und noch etwas anderes verdeutlicht das Beispiel Cecosesola. Wer für Commons geht, wird eher früher als später mit der Frage nach der Skalierbarkeit konfrontiert. »Wie soll das gesamtgesellschaftlich gehen mit diesem Commoning?« Diese Frage, als Ausdruck unserer derzeit dominanten Weltvorstellung, lässt sich innerhalb dieser Logik schwer beantworten, doch aus der Praxis Cecosesolas heraus wird es möglich. Der Kooperativenverbund hat sich auf Basis einer gefühlten kollektiven Notwendigkeit aus dem Bestehenden herausentwickelt. Stellen von Chef*innen wurden einfach nicht mehr nachbesetzt, Beteiligte lernten nach und nach alle Tätigkeiten kennen und führten sie rollierend aus, Gerechtigkeit und Solidarität als gemeinsame Werte wurden im Tun nach und nach herausgeschält, Entscheidungen werden oft von wenigen Personen getroffen, aber auf der Grundlage von Kriterien, die in einer der 3000 jährlich stattfindenden Versammlungen von Vielen konsensual erarbeitet werden. Die Muster des Commoning entfalten sich hier in lebendigen Netzwerken und wirken von dort in die Breite.

Cecosesola ist eine Ermutigung. Silke Helfrich blieb es durch ihren frühen Unfalltod versagt, die Preisverleihung selbst mitzuerleben und den Erfolg der Nominierung mitzufeiern. So tragisch dies ist, so ist die Auszeichnung dennoch ein Momentum, Commoning weiter in die Breite zu tragen.

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Der 1980 gegründete Right Livelihood Award ehrt und unterstützt mutige Menschen, die globale Probleme lösen. Bis heute haben 190 Preisträger aus 74 Ländern den Preis erhalten, darunter Edward Snowden (Vereinigte Staaten von Amerika), Dr. Denis Mukwege (Demokratische Republik Kongo) und Greta Thunberg (Schweden).

Die Jury von Right Livelihood erklärte, Cecosesola erhalte den Preis »für die Etablierung eines gerechten und genossenschaftlichen Wirtschaftsmodells als robuste Alternative zu profitorientierten Ökonomien«.

»Dieser Preis gibt uns die Möglichkeit, unsere mehr als 50-jährige Erfahrung auf internationaler Ebene zu teilen«, sagte Cecosesola. »Und neue Beziehungen zu Organisationen und Menschen zu knüpfen, die sich ebenfalls für den Aufbau einer solidarischen Welt einsetzen.«

»Mit mehr als einem halben Jahrhundert Erfahrung hat Cecosesola das Leben von Tausenden von Familien verbessert und ihnen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Nahrung verschafft. Inmitten der wirtschaftlichen und politischen Krisen in ihrem Land arbeitet Cecosesola offen, horizontal und kooperativ, um die Bedürfnisse der Gemeinschaften zu erfüllen. Ihr Erfolg beweist, dass wir Gesellschaften – und Volkswirtschaften – auf Vertrauen, Solidarität und Nachhaltigkeit aufbauen können, statt auf Gier, Wettbewerb und Kurzsichtigkeit«, sagte Ole von Uexkull, Executive Director bei Right Livelihood.

Die anderen Right Livelihood-Preisträger 2022 sind:

  • Fartuun Adan und Ilwad Elman aus Somalia
  • Oleksandra Matviichuk und das Center for Civil Liberties (CCL) aus der Ukraine
  • Africa Institute for Energy Governance (AFIEGO) aus Uganda

Weitere Informationen zu Cecosesola:

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[i] Viele Informationen über Cecosesola sind nachzuschauen im Film „Alle bestimmen mit – Gelebte Utopie im Krisenland Venezuela“ von Carmen Eckart https://p.dw.com/p/3uUSB (23.9.2022) oder auf der Webseite https://cecosesola.org (23.9.2022).

[ii] Helfrich, Silke: „Wir sind ein großes Gespräch“. In: Helfrich, Silke, Bollier, David & Heinrich-Böll-Stiftung: Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns. Transcript, S. 261 https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3245-3/die-welt-der-commons/ (23.9.2022)

[iii] https://commons-institut.org/2020/kartenset-muster-des-commoning (23.9.2022)

[iv] Helfrich, Silke: „Wir sind ein großes Gespräch“. In: Helfrich, Silke, Bollier, David & Heinrich-Böll-Stiftung: Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns. Transcript, S. 261 https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3245-3/die-welt-der-commons/ (23.9.2022)