Oscar Romero, Commons und mein Wähler*innenwille

Von Wolfgang Max Burggraf (59), katholischer Theologe

Es wird Zeit, dass wir diese nichtrepräsentative Demokratie demokratisieren…

Am 22. Dezember werde ich so Gott will meinen 60. Geburtstag feiern. Eine zwei-Haushalts-Feier: nur mein langjährigster und bester Freund und ich. Mit einer Kunstaktion.

An diesem Tag werde ich sowohl meine Fahrerlaubnis abgeben, als auch mein Wahlrecht auf bundes-, landes- und kommunalpolitischer Ebene übertragen. Damit sind wir bereits bei Oscar Romero. Oscar Romero?

Das Wohnprojekt in Bonn (siehe Fotos) existiert immer noch und ich habe dreißig Jahre, mein gesamtes zweites Lebensdrittel, mit ihm verbracht.

Als ich am 10. Juni 1979 erstmals wählen durfte, standen 1.261.000 18-jährige 472.000 60-jährigen Wahlberechtigten gegenüber; als ich am 27. September 2020 letztmals wählte (eine grüne Oberbürgermeisterin für Bonn!), stehen 778.000 18-jährige 1.264.000 60-jährigen gegenüber. Plakativ heißt das, dass der Wähler*innenwille heutiger Neuwähler*innen um den Faktor 4,3 weniger wiegt gegenüber dem von 60-jährigen als damals bei meiner ersten Wahl. Kombiniert mensch dies nun mit (heutigen) Statistiken von Wahlvorlieben, erschließt das den politischen Hintergrund meiner geplanten Kunstaktion: mit 18 die GRÜNEN, mit 45 gerne die AFD und ab 60 die CDU… etwas überspitzt gesagt.

Meine Kunstaktion also:

Ich gebe meine Stimme einem jungen Menschen. Natürlich braucht das einen Kontext und Zusammenhang; deshalb: ich gebe meine Stimme dem jeweils aktuell jüngsten Menschen als Bewohner*in  im Oscar-Romero-Haus. Mindestalter 14 Jahre, egal welche Staatsangehörigkeit.

Sollte ich in 15 oder 20 Jahren noch leben, beträfe dies eine Person, die heute noch gar nicht geboren ist. Wähler*innenwille als Commons zu denken und umzusetzen, das erfordert einen Reflexionsraum –  einen realen oder zumindest symbolischen Raum des Austausches mit jenen, denen dieser Wille übertragen wird. Diesen Reflexionsraum sehe ich in den jeweiligen Bewohner*innen im Romero-Haus. Ihrer Selbstorganisationsfähigkeit, Transparenz und nicht zuletzt ihrer (gelingenden) Auswahl der Menschen, die dort neu einziehen sowie den damit einhergehenden kollektiven politischen Diskussion vertraue ich meinen Wählerwillen an. Ich selber halte mich da raus, in vollem Vertrauen. Ich werde nicht wissen, was tatsächlich auf meinem Wahlzettel steht…!

Aus meinem Bekanntenkreis erntete ich bisher zu 90 Prozent Ablehnung dieser Aktion. „

Du diskriminierst damit alte Menschen; diese brauchen mehr denn je eine Lobby!

Und was ist, wenn diese dann jüngste Bewohner*in des Oscar-Romero-Hauses AFD wählt?

Deine Stimme als alter Mensch ist wichtig, weil sie deine im Leben gewonnene Erfahrung widerspiegelt…

Als Leser*in dieses Blogbeitrages werden Sie, wenn Sie bis hierher den Gedanken gefolgt sind, mindestens fünf weitere eigene Argumente gefunden haben, warum diese Aktion „voll daneben“ ist.

Ich mache sie trotzdem. Weil ich gerade in den letzten Jahren erlebt habe, wie junge Menschen 13 oder 15 Jahre alt für den Erhalt der Zukunft unserer Erde kämpfen. Weil ich mit 18 oder 21-Jährigen in einer erfolgreichen Blockade eines Nazi-Aufmarsches saß. Weil viele junge Menschen heute das tun, was ich mir vor 40 Jahren von meinen Altersgenoss*innen gewünscht hätte: auf ein Auto zu verzichten der Umwelt zuliebe. (Ich selber hatte nie ein eigenes Auto, insofern ist die Abgabe meiner Fahrerlaubnis dann doch sehr symbolisch…)

Natürlich tut es weh, in einer Demonstration (vor Corona) neben Menschen zu laufen mit einem Transparent: „Generation ABBA hat versagt.“ Das bin ich. Aber ich würde sogar noch eins drauf setzen: Auch die Generation Bob Dylan hat versagt! Auch die Linke meiner Generation hat es nicht geschafft, eine Verkehrswende oder eine Energiewende rechtzeitig zu bewirken, gar nicht zu denken an Themen wie weltweite Gerechtigkeit, Anti-Diskriminierung oder wirklich nachhaltige Lebensstile.

Deshalb ist meine Kunstaktion ein Ausdruck von Hochachtung: Vor der Entschiedenheit, dem Mut und vielleicht auch vor der Uneigennützigkeit von (jungen) Menschen, die Wochen ihres Lebens in Barrios verbringen. Vor deren Sensibilität und Wertschätzung alten Menschen (und ihres Lebenswerks) gegenüber, die ich (trotz des Spruches mit der „Generation ABBA“) immer wieder erfahre.

Deshalb ist meine Kunstaktion ein Ausdruck der Hoffnung: Dass Menschen, die heute 16 oder 18 sind, es in den nächsten 40 oder 50 Jahren IHRES Lebens anders und besser machen als ich, der ich vor 41 Jahren 18 war, in MEINEN zurückliegenden 40 Jahren.

Und Oscar Romero? Meine Kunstaktion ist ein Ausdruck meiner Gewissheit, dass die Menschen, die jeweils im Oscar-Romero-Haus in Bonn leben, den Martyrer lebendig halten – dadurch, wie sie sich selbst in Gesellschaft einmischen, und wie sie ihre jeweiligen Nachfolger*innen in den Wohnetagen auswählen. Daher kann ich im Sinne Romeros getrost meinen Wähler*innenwillen in die Hand des jüngsten Menschen im ORH geben [3].


[1] Wo Spinner bunte Netze knüpfen. 25 Jahre Oscar-Romero-Haus Bonn/ hrsg. Vom Förderverein Oscar-Romero-Haus e. V. – 1. Auflage – Bonn: Informationsstelle Lateinamerika (ila), 1998, S. 45 ff.

[2] Rechtslage zum Verkauf einer Stimme: Darf ein Wahlbe­rech­tigter seinen Stimm­zettel – etwa bei ebay – zu Geld machen? „Nein“, sagt Rechts­anwalt André Picker. „Ein Stimmen­verkauf ist unzulässig. Verkäufer und Käufer würden sich sogar wegen Wählerbe­ste­chung gemäß § 108b des Straf­ge­setz­buches strafbar machen.“ Auch die beste Freundin, den Vater oder die Großmutter sollte man seinen Wahlschein nicht ausfüllen lassen. „Für die Wahl gilt das Prinzip der Höchstpersönlichkeit“, so Picker. „Es gebietet, dass ausschließlich der Wahlbe­rech­tigte selbst seine Stimme abgeben darf. Das Wahlrecht ist unveräußerlich und nicht übertragbar.“

[3] Die derzeit jüngste Person im ORH kenne ich, ihr Name wird aber hier nicht genannt. Ob es bei der Kunstaktion als Symbol bleibt oder ob sie tatsächlich umgesetzt wird, darüber kann hier nichts ausgesagt werden.